Sickergrubenblau

Ich weiß noch als ich ihn das erste Mal sah, vor zwei Tagen, saß er vor mir an dieser Bar, mit seinen goldblonden Haaren. Er steckte einen Finger in den Hals der Flasche vor sich auf dem Tisch, während seine Augen in jeder Sekunde nur mich fixierten, winkelte den Finger ganz leicht an im Flaschenhals und zog ihn dann heraus, den Finger, plopp. Das Geräusch, des entweichenden Vakuums, das er aufgebaut hatte. Gelächelt hat er dabei, aus seinen blauen Augen, die so dunkel waren, als wären sie eigentlich schwarz. Doch sie waren blau, stahlblau, marineblau, nachthimmelblau, sickergrubenblau.

Im ersten Moment, als ich ihn sah, fand ich ihn schön. Tiefgründig, irgendwie, dank dieser Augen. Geheimnisvoll auch, denn er sprach kaum wirklich über sich, obwohl er jeden stillen Moment mit Worten füllte. Er redete für mich mit, nur eben nicht von sich selbst, also wirklich sich selbst, seinen Gedanken, seinen Wünschen, seinen Werten oder eben dem, was ihn ausmacht, den Menschen. Vielleicht irre ich mich auch, und was er erzählte, war für ihn eben doch genau das, was ihn ausmacht, den Menschen, und vielleicht sagte das alles über ihn, den Menschen, der vor mir saß. Er sprach ausschließlich über das, was man auch sah, an ihm, in seinem Gesicht und über das, was er über sich im Gesicht des anderen gespiegelt finden wollte. All diese Dinge ohne Belang, die in ein jedes Leben passen könnten und sonst nichts, und ich vergaß mich zu fragen, welche Dinge das waren, die in keines als das eigene Leben passen, während er seinen Finger ein zweites Mal in den Flaschenhals schob, ihn ansah, anwinkelte, anzog und plopp, ich schob es auf Nervosität.

Es ist jedenfalls eine dieser Wasserflaschen gewesen,  da in seiner Hand, die es heutzutage in fast allen Berliner Cafés zu kaufen gibt, in Bäckereien, Bars und Clubs, überall die gleichen individuellen Wasserflaschen mit den blauen Etiketten, seit zwei Tagen sehe ich sie überall und vor meinem inneren Auge seinen Finger in den Hals fahren und plopp.

Er sei Brite, hatte er gesagt, über sich.
Er sei seit einem Monat erst in Berlin, hatte er gesagt, über sich.
Er sei noch nie einem so schönen Mädchen begegnet seitdem, hatte er gesagt, über mich.
Und plopp.
Ich hatte an meinem Weinglas genippt und gelächelt, vor zwei Tagen in Berlin, in dieser Bar, die er vorgeschlagen hatte für dieses Treffen, für dieses erste Mal in Berlin mit uns beiden, weil sie, die Bar, direkt unter seiner Wohnung lag, wie ich heute weiß. Und weil dort wohl niemand etwas sagt, wenn er Finger in Flaschenhälse steckt und später verschwunden ist, plötzlich, wie das Vakuum beim Verlassen des Fingers aus dem Flaschenhals.

Er sei zum Studieren in Berlin, hatte er gesagt, über sich.
Er sei gern hier mit mir in der Bar, hatte er gesagt, über uns?
Und plopp.

Ich hatte erneut an meinem Weinglas genippt und gelächelt und nichts gesagt, und er füllte die Stille mit seinen eigenen Worten, statt auf meine zu warten. Ich weiß noch genau, wie ich dachte, mich selbst dazu brachte, es zu wollen, ich würde gleich gehen, gleich aufstehen, dann wäre der Abend vorbei, dann müsste ich diese dunkelblauen eigentlich schwarzen Augen nicht mehr sehen, doch ich blieb sitzen. Aus Höflichkeit? Aus Angst zu verletzen? Und vielleicht ist das dasselbe, falsch ist es immer.

Aber wie kannst du dir sicher sein?, fragt meine Freundin später, zwei Tage danach.
Es tut weh, sage ich.
Aber du erinnerst dich nicht, sagt sie.
Aber mein Körper tut’s, sage ich.
Das ist doch, ich meine, wie kannst du dir sicher sein?, fragt sie.
Das kann ich wohl nicht, sage ich.
Du musst mal wieder raus gehen, sagt sie.
Ich liebe meine Wände, sage ich.

Und das ist die Wahrheit. Meine Wände, ich finde sie plötzlich ganz wunderschön. Die weißliche Raufasertapete sah nie so glatt, so beruhigend aus wie jetzt, an diesem Tag, zwei Tage danach. Vor allem das Stück dort hinten, das, am dem die Wasserflasche zerschellt ist, vor zwei Tagen am Morgen, diese Stelle, an der die Tapete ein wenig aufgeweicht ist, an der der Wasserfleck noch immer gräulich an sich selbst erinnert. Wunderschön. Und die Scherben der Flasche auf dem Dielenboden und die drei Scherben, die bis an den Rand des Teppichs geprallt sind, und das vom Wasser aufgelöste bläuliche Etikett, und der obere verdickte Rand der Flasche, dort, wo er seinen Finger hindurchgeschoben hatte, wo Menschen ihre Lippen gegenpressen, um den Inhalt hindurchzulassen, dieses Stück verdicktes Glas, das nun in meiner Wohnung ganz in der Ecke, direkt im Knick meiner Scheuerleiste liegt, wunderschön. Seit zwei Tagen schon.
Woher die Flasche gekommen ist? Wieso sie überhaupt hier war? Jetzt liegt sie jedenfalls dort und ich hier in meinem Bett, die Strickjacke bis zum Anschlag geschlossen, halb übers Gesicht gezogen, Kinn, Mund und Nase verdeckt vom Stoff.

Aber warum sagst du dann nichts?, fragt sie.
Dir hab ich es doch gesagt, sage ich.
Aber der Polizei, irgendwem, der dir auch helfen kann?, fragt sie.
Ich erinnere mich an nichts, sage ich.
Dann ist es vielleicht gar nicht wahr?, fragt sie.
Siehst du, sage ich.
Wann hast du zuletzt etwas gegessen?, fragt sie.
Ich kriege nichts mehr hindurch, durch meine Lippen, in den Mund, also, das geht nicht mehr, nichts mehr, in den Mund nehmen, kann ich, sage ich.

Und ich mag das Gefühl, wie sich mein Magen zusammenkrampft, das jetzt immer häufiger kommt, immer intensiver wird und gleichzeitig nachzulassen scheint. Ich liebe es, zu fühlen, wie mein Magen versucht, etwas aus sich herauszupressen und gleichzeitig verlangt, etwas in sich hineinzubekommen. Dieses Gefühl ist da, seit ich mich erbrochen habe, vor zwei Tagen, bitter, rötlich und noch. Seit dem krampft mein Magen in Intervallen, immer mal wieder, als wolle er versuchen, alles, wirklich alles, also auch das von vor zwei Tagen, wieder hervorzuholen, herauszubekommen, aber nicht jetzt, jetzt passiert nichts. Jetzt sitzt meine Freundin hier, auf meinem Teppich, in meiner Wohnung, vor meinem Bett, und schaut mich an, als hätte sie meinen letzten Satz nicht gehört, und verzieht das Gesicht. So sieht sie sonst aus, wenn sie lacht, im Gesicht, und sie springt jetzt auf und klatscht in die Hände und ruft: Na komm. Es schallt durchs Zimmer, was sie sagt, alles schallt immer wieder, viel zu laut, vielleicht auch gar nicht im Zimmer, vielleicht nur in meinem Kopf.
Na komm! Ich hab eine Idee, zieh dich an. Na komm. Zieh dich, eine, komm.
Ich setze mich hin. Na gut.
Zieh dich an.
Ich zieh mich an.
Erst die Strickjacke aus, darunter nichts. Also ein BH, ein Hemd, ein Shirt, ein Pulli und dann, ein Slip, die Hose, die Socken, die Schuhe, alles in schwarz. Auf den Kopf ein Tuch, was soll das?, fragt sie. Ein Tuch? Ja ein Tuch, nur die Haare weg, ich will sie nicht sehen, nicht auf die Schultern fallen spüren, nicht hinter die Ohren klemmen müssen, will sie nicht berühren, meine Haare, also ein Tuch.
Und so stehe ich jetzt da, in Schwarz, in meinem Zimmer, neben meinem Bett, neben meiner Freundin, die es gut meint, die mein Zittern nicht sieht und sie ruft:
Na komm, jetzt hab dich nicht so.
Und ich hab mich nicht so und gehe mit ihr raus aus meinem Zimmer, meiner Wohnung, meinem Wohnhaus, ohne ein Wort, an ihrer Hand, sie hält mich an der Hand wie ein Kind und wir gehen raus, in die Sonne des Tages. Es ist so hell, viel zu hell. Ich stehe da, nur ganz kurz vor der Tür. Was ist?, fragt sie. Und wir gehen los, meine Beine sie gehen, mein Magen ist still, die Sonne ist da, einige Bäume sind da, Tauben auf den Dächern sind da, die anderen Menschen auch, alle da, so viele von ihnen, dabei auch solche. Männer. Solche, die blond sind, aber nicht er. Also gehen wir weiter, sie sieht sie nicht, sie redet die ganze Zeit, spricht von Vögeln und dem Licht und wie schön es sei und ich würde schon sehen, müsste nur mal ein wenig gehen, dann würde es werden, schon wieder werden, mit meiner Laune, wer könnte schon schlechte haben, wo doch die Sonne so wunderbar scheint?
Und wir bleiben stehen, plötzlich, nein nur ich bleibe stehen, vor einer Bar in Berlin, einer, an der ich schon hunderte Male vorbei gegangen bin, gleich bei mir um die Ecke, ich bleibe stehen und sehe sie an, die Frau, die dort sitzt. Und sie lacht. Sie sieht mich nicht an. Sie ist nicht blond. Ihr gegenüber ein Mann. Er sieht mich auch nicht an. Er ist blond. In seiner Hand diese Flasche, mit dem blauen Etikett. An seinen Lippen diese Flasche mit dem blauen Etikett, jetzt vor ihm auf dem Tisch, ich mache einen Schritt und dann weiß ich nicht mehr, wie sie zerbrochen ist, diese Flasche mit dem blauen Etikett. In meiner Hand? Denn dort ist Blut. Auf dem Boden! Denn dort liegen die Scherben. Die Leute schauen mich an, die Frau schreit kurz auf, der Mann schimpft in meine Richtung, ich schlage ihm ins Gesicht. Mit meiner blutigen Hand, direkt ins Gesicht, dabei ist es nur irgendein Mann.
Spinnst du?, fragt jemand.
Das schmerzt, sagt jemand.
Das ist irre, sagt jemand.
Bist du irre?, fragt jemand.
Sie ist irre!, sagt jemand.
Das ist uns grad passiert, ja ja, von ihr, die da, die da lacht, ja, sie ist irre, sagen gleich zwei.
Und alle in der Bar sind jetzt aufgesprungen, ganz aufgeregt, alle rufen irgendwen, zwei halten mich fest, ein Kellner kommt und befiehlt mir zu gehen, und ich lache und denke, ja. Eine solche Reaktion wär‘s gewesen, diesen Tumult hät‘s gebraucht, als er mich mit meinem Kinn auf der Brust unter meinen Achseln griff und aus dem Gastraum zog, oder trug, oder hievte, oder schob vor zwei Tagen an diesem Abend, an dem ich ihn das erste Mal sah, ihn und die Flasche mit dem blauen Etikett. Oder wie sonst bin ich in seine Wohnung gekommen, der Wohnung  gleich über der Bar, ganz ohne aufspringende Andere, schimpfende Frauen und rausschmeißende Kellner?
Meine Freundin zahlt das Wasser, ich setze mich hin.
Meine Freundin entschuldigt sich für mich, ich sehe zu.
Meine Freundin zieht mich vom Stuhl, ich komme mit.
Bist du irre?

Oliver war sein Name, hatte er gesagt, an diesem Abend vor zwei Tagen, an dem ich ihn das erste Mal sah.
Oliver aus Hastings, südlich von London, einer kleinen Stadt, oder vielleicht einem Ort, was ist der Unterschied?, direkt an der Küste jedenfalls. Am Ärmelkanal, manchmal sah man auch Frankreich von dort. Ich war noch nie in Hastings gewesen, er konnte mir also alles erzählen, ich würde es nicht besser wissen, würde es glauben müssen, er könnte alles mögliche sagen, wie es war, in Hastings, südlich von London und das tat er auch. Er sprach von den Ruinen des Hastings Castle, die er schon als Kind erkundet habe, von den alten Schiffen im weißen Sand auf dem Strand, die dort von den Menschen des Ortes, der Stadt?, repariert würden, von der Seebrücke, die auf scheinbar viel zu dünnen hölzernen Stelzen weit in den Ärmelkanal hinein gebaut worden wäre, auf die man nicht hinaufdürfe, sage ein Schild ganz vorn am Tor, weil sie den Fischern gehöre, die ihre Hütten zum Sortieren des Fischs direkt ans Ende der Seebrücke auf die von den dünnen Stelzen gestützten Bodenlatten gebaut hätten. Dort vorn, am Ende der Seebrücke, hingen die Fische noch lange nach dem Zählen in schlauchförmigen Netzen, gefangen aber doch noch im Wasser, aus dem sie kamen und blieben so frisch, das sei so gewollt, das sei der Trick, das sei das besondere an den Fischen aus Hastings. Die Frische. Der Tod erst kurz vor dem Teller, als seien alle Fische so edel wie Hummer. Oliver erzählte auch vom Glitzern des Piers bei Nacht, wenn die Küstenhäuser ihre Fenster erleuchten ließen und die Lichter der Stadt, des Ortes?, schon weit vom Wasser her zusehen wären. Und vor allem von dem kleinen Hügel über der Stadt, den er als Kind gern erklommen hätte, von wo aus man sie sehen könne, die Häuser, jedes einzelne, von Hastings, die Straßen, die Wege, die Menschen, den Strand, die Boote, den Himmel, die Möwen, die Wolken, die Weite, das Meer. War es überhaupt ein Meer, an dieser Stelle am Ärmelkanal? Er nannte es Meer, er beschrieb es wunderschön, alles was er sagte, klang wunderschön. Er sprach vom Country Park auf der anderen Seite des Hügels, der Düne, vom dünnen Gras zwischen dem weißen Sand und vom Rauschen des anbrandenden Wassers, dessen Geräusch der Wind die Dünen hinauftrug. Er erzählte, wie er einmal heimlich nachts, im Licht der Häuser, des Piers, in eines der Boote geklettert sei, das auf dem Sand lag und schwieg, für immer still, das Boot. Er erzählte mir, wie es geknarrt hätte auf dem alten Boot, wie er Rostlöcher sah, in der Haut, in der Reling, dem Boden. Wie das fast kupferfarben schimmernde Rostbraun die Ränder von allem hier umgab und einen ganz neuen, ungeraden, unruhigen Rand bildete und wie das Boot dennoch schon am nächsten Tag wieder gefahren sei. Auf dem Ärmelkanal, mit den Stellen voller Rost, den Löchern, die er hinterlässt und der Stille, die das Boot umgab, war es gefahren, weit draußen, zu sehen vom Hügel hinter dem Pier, aber er erzählte auch, aber nie mehr wieder gekommen sei, nie mehr wieder auf dem Sand des Strandes gelegen habe. Einfach weg, am Tag, nachdem er in es hinein geklettert war, den Rost sah obwohl es vor ihm so lang hier gewesen war.
Ich war mal in London, sagte ich und er hatte mich angesehen, als sei er erschrocken, meine Stimme zu hören.
In London, ja, da habe er studiert, sagte er, da studiere er grad, wenn er nicht hier war, und zog wieder die Flasche in seine Nähe, ich nippte an meinem Weinglas und schaute auf die Uhr. Nochmal, bis er es sah. Er siah‘s.
London ist natürlich eine Wucht, sagte er aber, statt: okay, wollen wir gehen?
London, da ist natürlich für alle was los, sagte er und er erzählte jetzt nicht mehr von Booten und Dünen, sondern plötzlich von Ecken einer Stadt, die ohne jeden Zweifel für jeden als Stadt zu bezeichnen ist, Ecken also einer bekannten, berühmten, beliebten Stadt, in denen außer ihm, vor ihm, nie jemand gewesen sei. Die noch so richtig urban waren. Wie früher in Berlin. Dieser Stadt hier, in der sie jetzt saßen. In der es mal Mauersteinstücke zu klauen gab. Wo es noch Hinterhöfe zu finden gab, die heute zugebaut sind. Wo es noch Räume zum Einnehmen gab, die heute jeder sieht. Er ist dagewesen, in London, an diesen Stellen, die heute jeder sieht, aber erst danach, nach ihm, jetzt sind sie hip und voll und er ist jetzt hier.
Bei dir, sagte er und lächelt so schräg.


Einmal, sagte er, habe er auf dem Nullmeridian gestanden, nicht in London sei der, klar, der sei in Greenwich. Eine dicke rötliche Linie auf dem Boden, links und rechts von dünneren aus Messing umrahmt, mit wieder rötlichen Steinplatten umschossen. Am Ende der Linie stünde  eine silberne Skulptur, sagte er, ob ich die schon einmal gesehen hätte, fragte er und lachte, die sehe aus wie eine Vagina, sagte er und lachte, wenn man direkt davor stünde, vor der Skulptur, eine gigantische Vagina aus Metall, zwei Schamlippen und die Mitte so ein Strich, er lachte.  Ich wartete kurz ab.
Vulvalippen, sagte ich dann.
Bitte?, fragte er.
Und es ist kein Strich dazwischen, mein Gott, sagte ich.
Willst du es mir mal besser beibringen?, fragte er und lachte.
Nein, ich bin noch nie dort gewesen, sagte ich.

Und er hatte mich angesehen, mit diesen sickergrubenblauen Augen, die fast schon schwarz waren, und hatte wieder seinen Finger in den Hals der Flasche geschoben, die mit dem blauen Etikett und plopp.

Hast du gewusst, fragte ich, dass die Messinglinie gar nicht an der korrekten Position ist? Der Nullmeridian verläuft 102 Meter weiter östlich. Dass kann heute jeder mit seinem Smartphone feststellen, sagte ich. Wenn man dort steht, einfach draufschauen aufs Telefon, sagte ich und zuckte die Schultern.
Ach was, sagte er, aber das sei halt trotzdem schon beeindruckend dort.
Ja, ganz sicher, sagte ich. Ganz klar, beeindruckend, ja, eine ausgedachte Linie eines erfundenen Liniensystems für ein imaginäres Netz über der Erde, das links und rechts andere Uhrzeiten behauptet, beeindruckend, ja, auch wie manche Menschen manche Dinge einfach ignorieren, auch dann, wenn sie schon sehr lange bewiesen sind, nicht wahr, weil ihnen ihre Sicht halt besser passt, weil sie erdachte Linien als wichtig behaupten, nicht wahr, und sie nicht mehr verändern können wollen, weil das Messing zum Beispiel halt dort im Boden schon liegt, nicht war, so werden weiter dort Menschen durch die Hemisphären geschickt, statt dort, wo die Linie eigentlich hingehört, damit das ausgedachte Netz wenigstens wieder stimmt, nicht wahr, sagte ich.
Du warst doch noch nie da, sagte er.
Das stimmt, sagte ich, und mitternachts schlafe ich meist sowieso.
Aber heute vielleicht ja nicht, sagte er und lächelte und plopp.

Jetzt, zwei Tage nach diesem Abend voller Hastings und London und Vulvalippen zieht mich meine Freundin empört vom Stuhl einer Bar. Zwei Tage zu spät. Wo ist sie gewesen, an diesem Abend, als ich ihn das erste Mal sah? Sie zieht zwei Tage zu spät und merkt erst dann, es ist meine blutige Hand, an der sie gezogen hat, sie zieht ihre zurück.
Was sollte das grad?, fragt sie.
Ich sage nichts.
Lass uns zurück gehen, sagt sie.
Ich sage nichts.
Sie schaut mich an, als ob sie zu überlegen versucht, ob ich irre bin, wirklich irre bin, weil ich blonden Männern mit dieser Flasche in der Hand, der Flasche mit dem blauen Etikett, ins Gesicht schlage, statt mit ihr spazierenzugehen, sie hätte es doch gut gemeint, mich auf andere Gedanken bringen wollen und dann. Bloßgestellt habe ich sie, sagte sie, leise vor sich hin, ich höre es doch, einfach sagen hätte ich müssen, dass ich nicht wolle, sie wolle niemanden zwingen zu etwas, schon gar nicht mich.
Viel zu lange schrubbt sie schließlich in meinem Bad an ihrer Handfläche herum, an der Stelle, an der der Schnitt dieser Flasche mit dem blauen Etikett sie berührt hat, als sei mein Blut wie Säure in ihre Haut eingezogen. Ich stehe daneben, im Bad, meinem Bad, und warte. Bis sie geht. Es verlässt, und ich schließe die Tür von innen, als sie draußen ist. Schließe ab, als sie in meinem Schlafzimmer steht. Muss mich waschen, dringend waschen jetzt. Muss meine Atmung unter Kontrolle bekommen, ziehe mich aus bis auf das Tuch auf dem Kopf und stehe viel zu lang im warmen Wasserstrahl. Voller Seife jetzt, aber nur oben, an den Schultern, am Hals, ich kann ihn nicht berühren, den Rest von mir. Nicht meine Brust, nicht meinen Bauch, nicht meine Schenkel, nichts, nur die Schultern, den Hals, unter Protest in meinem Kopf. Die Seife läuft von meinen Schultern aus an mir herab, nimmt auf ihrem Weg meinen Körper hinab an Schmutz, Dreck, Unrat, Berührungen, Hautschuppen von anderen, Staub, mikroskopisch kleinen Spucketropfen und Furcht mit, was sie aufnehmen kann in sich, statt auf mir, und tropft auf das Emaille der Duschtasse unter meinen Füßen. Ich sehe ihr lange nach, der Seife, wie sie sich in den Abfluss kringelt und verschwindet, bis das Wasser wieder klar ist, zumindest scheinbar.
Als ich herauskomme aus meinem Bad, ist meine Freundin weg. Gegangen, mein Smartphone blinkt, die Sorry-WhatsApp, die ich nicht lesen werde von ihr, sie ist weg, das reicht aus, das sehe ich auch so. Ich stelle mich hin, in eine Ecke meines Zimmers, das mit der weißlichen Raufasertapete, und lege meine Hand an die Wand. Drücke sie ran an die Mauer, dann die andere dazu, und stemme mich gegen die Wand, mit meiner ganzen Körperkraft, es ist nicht mehr viel. Meine nackten Füße rutschen über das Holz der Dielen, weg, immer weiter weg von der Wand, Druck, immer weniger Druck geht aus meinen Händen in die Mauer und dann fehlt etwas, vielleicht Reaktionsfähigkeit, und ich rutsche ab und liege da, auf dem Boden. Die Wand ist fest, denke ich, warum schwankt sie dann? Diese Wand schwankt, ich sehe vom Boden aus an ihr hoch, sie droht auf mich zu fallen, so sieht es aus, sie schwankt auf mich zu, und ich springe wieder auf. Die Hände an die Tapete gestemmt mit all meiner Kraft, und hinterlasse den Fleck. Einen kleinen nur, einen kleinen Fleck aus meinem Finger, das Blut, dort, wo die Flasche mit dem blauen Etikett ihn aufgerissen hat, meinen Finger, ist nun durch den Druck gegen die Wand die Wunde wieder aufgerissen und heraus kommt Blut, ein ganz kleines bisschen nur, direkt an die weißliche Raufasertapete und ich starre ihn an, den Fleck.
Mein rotes Blut auf weißlichem Grund, es zuckt in meinem Kopf. Und es ist jetzt Blut zu sehen, für alle die, die in meinen Kopf schauen können. Und meine weiße Haut ist zu sehen und ein Laken, ein Bett und Tränen auch und seine weiße Haut ist zu sehen und die feuchten Flecken aus Schweiß und Spucke und eben dieses Blut, aber an meiner Haut und auf dem Laken und es ist von mir.
Wer in diesem Moment, an dem ich an meiner Wand lehne und meine Hände in die Tapete presse, gegen die Mauer meines Zimmers drücke und einen Blutfleck hinterlasse, wer in meinen Kopf schauen kann, der sieht, wie ich, diesen Mann zum zweiten Mal. Einen zweiten Mann. Mit sickergrubenblauen Augen, die jetzt noch dunkler sind als die des ersten Mannes, so dunkel, dass sie doch eigentlich fast nicht mehr sehen können müssten. Die Pupillen in der Iris so weit, sie füllen sie aus, darum sind sie jetzt schwarz, seine Augen, die Augen des zweiten Mannes, der, den alle die sehen, die jetzt in meinen Kopf schauen können. Und ich rutsche wieder ab, dieses Mal etwas langsamer, in meinem Kopf vom Laken, mein Gesicht im Laken, es rutscht hin und her und es schmerzt, meine Hände an der Wand in meinem Zimmer schmerzen auch und mein Gesicht in meinem Kopf auf dem Laken ist nass.

Ich muss kurz mal zur Toilette, hatte ich gesagt an dem Abend vor zwei Tagen in der Bar, als ich ihn das erste Mal sah.
Okay, hatte er gesagt und gelächelt.
Wenn ich wieder zurück bin, trink ich den Rest Wein in einem Zug und muss endlich hier weg, hatte ich zu mir selbst gesagt.
Bis gleich, hatte er gesagt und gelächelt.
Und ich war zurückgekommen und hatte mich hingesetzt, auf denselben Stuhl, von dem aus ich gegangen war, und hatte mein Glas geleert, in einem Zug, dasselbe Glas, das ich zurückgelassen hatte, und hatte ihn angesehen und hatte sagen wollen: Ich muss dann mal leider, war nett, aber er begann direkt wieder zu sprechen. Er sah meinen leicht geöffneten Mund, meine Lippen, die ansetzten, Worte zu formen, setzte selbst viel schneller einfach nahtlos an an dem, was vorher gewesen war. Und ich hörte seine Stimme, aber die Laute ergaben keinen Sinn mehr. Ich versank in mir selbst und schob das leere Weinglas sichtbarer in die Mitte des Tisches. Es ist leer. Ich will gehen. Sieh endlich hin. Ich will weg von dir. Und plötzlich redete er noch viel mehr als zuvor, noch schneller als zuvor, noch weniger verständlich als zuvor, immer komischere Laute als zuvor, sie mischten sich dumpf in meinem Kopf. Und ich griff nach seiner Flasche, der mit dem blauen Etikett, und trank auch diese leer. Hielt sie fest, wie eine Geisel. Lass mich gehen, dann bekommst du sie zurück. Er lächelte mich an. Irgendwann wurde mir schlecht. Irgendwann fing es an sich zu drehen. Irgendwann fasste ich mir an den Kopf, in die Haare, als würde ich versuchen, mich an mir selbst festzuhalten, irgendwann erklangen keine Laute mehr, irgendwann verlor ich den Halt, irgendwann lachte er laut, meine Güte, hörte ich ihn sagen, irgendwo, in meinem Hinterkopf, irgendwie spürte ich mein eigenes Gehen, mit einem Arm um mich, einem festen Griff, mit weichen Knien und plötzlich stand ich in einem kleinen Raum und stand vor einer Tür, und ich stand in einem größeren Raum und ich lag auf einem Bett und dann war mir schlecht, doch raus kam es erst zwei Tage danach.

Jetzt sitze ich auf meinem Dielenboden, in meinem Zimmer, mit Blut nur noch am Finger. Mir ist kalt. Ich denke nach. Über Oliver. Aus Hastings. Direkt am Ärmelkanal. Südlich von London, mit einem Hügel mit Blick über die gesamte Stadt. Und ich denke, wo er wohl gerade sitzt. Mit seinem Finger in einer neuen Flasche und plopp. Und mir wird wieder schlecht. Doch es ist nichts mehr drin im Magen, er ist leer. Vollkommen leer. Ich muss ihn spülen, denke ich. Ausspülen. Doch ich bekomme nichts hinein in meinen Mund, es geht nicht. Und ich kann nicht glauben, dass nie mehr etwas anderes drin ist in dem, was etwas behauptet zu enthalten. Nur Wasser. Nur Wein. Nur Suppe. Keine Drogen hier, woher soll ich das wissen? Und ich denke, das ist natürlich Quatsch. Doch das Wasser in meinem Glas macht mir Angst.

Es kann doch gar nicht so schlimm sein, wenn du betäubt warst, hatte meine Freundin gesagt, einen Tag danach, am Telefon.
Mhm, hatte ich gesagt.
Ich meine, ich kenne Oliver aus London, da war er nicht so, da war er nett, hatte meine Freundin gesagt.
Aus Hastings, hatte ich gesagt.
Wo wir studiert haben, in London, Erasmus, er kommt aus Amsterdam eigentlich, hat er erzählt damals, in der Bar, hatte meine Freundin gesagt.
Amsterdam?, hatte ich gefragt.
Da sei er her, Oliver, er war nett, sonst hätte ich euch einander nicht vorgestellt, ist doch klar, hatte meine Freundin gesagt.
Ja, nett, aus Amsterdam, hatte ich gesagt.
Was hast du mit Amsterdam jetzt?, hatte meine Freundin gefragt.
Schon gut, hatte ich gesagt.
Ich glaube, du steigerst dich da in was rein, hatte meine Freundin gesagt.
Mhm, hatte ich gesagt.
Ich, also tut mir leid, aber ich kann mir das, nein, nicht Oliver, er wollte nur Kontakte knüpfen, Leute kennen lernen, sorry, dass ich nicht dazugekommen bin wie geplant, hatte meine Freundin gesagt.
Mhm, hatte ich gesagt.
Zu mir war er immer nett, ich war oft etwas mit ihm trinken in London, hatte meine Freundin gesagt. Und du bist dir ja auch gar nicht mal sicher, das hast du selbst gesagt, erinnerst dich nicht, an nichts, das hast du selbst gesagt, vielleicht warst du einfach nur zu betrunken, würde ich mal sagen.
Nein, ich denke, versuchte ich zu sagen.
Und na ja, man muss schon vorsichtig sein, wen man beschuldigt und wegen was, hatte meine Freundin gesagt.
Ich beschuldige ihn nicht, hatte ich versucht zu sagen.
Mir dreht sich immer der Magen um bei sowas, wenn man zu viel trinkt und dann passiert sowas und dann will man so tun, als hätte man‘s gar nicht gewollt, weil‘s peinlich ist oder der Freund es gemerkt hat, plötzlich war‘s nicht mehr so, sondern so, also der Oliver, ich kenne den schon, seit wir zusammen in London waren, der war immer nett und ehrlich und nicht nur zu mir und außerdem hat er ne Freundin, hatte meine Freundin gesagt und aufgelegt und ich war ins Bad gegangen und hatte mir erneut die Zähne geputzt, hatte sie geschrubbt, bis ich nur noch Blut sah im Schaum und einen kurzen Moment das Gefühl hatte, dass dieser Geschmack, dieser Belag auf meiner Zunge verzogen war.

Jetzt, hier, auf dem Dielenboden meines Zimmers, frage ich mich, wie lange es ein Körper schafft, nicht zu trinken. Wie lange es noch gutgehen würde. Also gehe ich in meine Küche. Und erschrecke. Sehe sie stehen. Die Flaschen. Aus Glas. Mit den blauen Etiketten. In meiner Küche. Auf meinem Tisch. Und sie sind geschlossen, sie sind alle noch zu, sie stehen alle drei da, die Flaschen, und ich sehe sie an. Ihre Form, ein Rumpf ohne Arme und Beine, ein Hals ohne Kopf, diese immer gleichen Flaschen. Irgendwann wird es die auch in Hastings geben. In London geben. In Amsterdam geben und ich frage mich, liegt die Stadt auch am Ärmelkanal. Liegen in Amsterdam alte Boote voll Rost? Gibt es Dünen und trockenes Gras und Lichter am Pier und Steine und Fischer und Fische und Hütten und Weite und Wolken und Möwen und Oliver?
 

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