Eine Stadt im Krieg – Kiew im Oktober 2023

Vom 22. bis zum 25. Oktober hatte der PEN Ukraine eine kleine Delegation aus sieben europäischen PEN Zentren zu einem Regionaltreffen in die Ukrainische Hauptstadt Kiew eingeladen. Neben dem Präsidenten des Finnischen PEN Peter Mickwitz sowie des Dänischen PEN Per Christian Øhgaard und der Präsidentin des Norwegischen PEN Ann-Margit Austenå, kamen auch der Generalsekretär des Schwedischen PEN, Henrik Sjöberg, die Board-Mitglieder Stefan Todorović aus Montenegro sowie Faruk Šehić aus Bosnien und Herzigowina und ich, Sophie Sumburane, Board-Mitglied des PEN Berlin. Es war unsere erste Einladung als offiziell international anerkanntes PEN Zentrum und somit schon aus diesem Grund besonders. Auch besonders war das Reiseziel: Kiew, noch immer in Kriegszeiten.

Für die taz schrieb ich eine Reportage über diese Reise. Dieser Text dagegen ist viel zu lang, viel zu persönlich, aber vielleicht trotzdem für die eine oder den anderen interessant zu lesen.

Ich möchte mich bereits zu Beginn dieses Berichts sehr herzlich beim Mitarbeiter*innen-Team des PEN Ukraine bedanken, die diese Reise professioneller und empathischer nicht hätten gestalten können. Und natürlich auch dem PEN Präsidenten Volodymyr Yermolenko sowie der Vize-Präsidentin Myroslava Barchuk und den Board Mitgliedern Alim Aliev und Iryna Slavinska, die uns auf die eine oder andere Weise begleitet haben. Nun aber zum persönlichen Bericht.

Begonnen hat diese Reise unserer aus sieben Personen mit sieben unterschiedlichen Nationalitäten bestehenden Reisegruppe mit einem Luftalarm, kurz vor Mitternacht Kyiv Time, ganz in der Nähe der polnischen Grenze zur Ukraine. Wir standen zwischen hunderten Ukrainer*innen auf einem elend langen Bahnsteig, bereit, in den Kiew-Express zu steigen.

Nach einem Flug aus dem jeweiligen Heimatland, dem Treffen auf dem Warschauer Ostbahnhof sowie einer dreieinhalb-stündiger Zugfahrt aus Warschau hatten wir es nun schon bis hierher, an die Grenze zur Ukraine geschafft, als der Alarm aus einem der Handys in unserer Runde dröhnte und sich nicht abstellen ließ. Es ist ein sehr lauter Alarm, der darauf ausgerichtet ist, jede Person aus dem Tiefschlaf zu reißen. Er ist aber kein Wecker, er reagiert nicht auf Klicken, Wischen, Drücken oder Fluchen, er dröhnt immer weiter, auch in der polnisch-ukrainischen Nacht, viele Kilometer entfernt von Kiew. Blicke von links und rechts, nervöses Schauen auf die Uhren, immer wieder in unsere Richtung, der, dem das Telefon gehörte, versuchte noch immer es zum Schweigen zu bringen und löste das Problem schließlich durch das Löschen der App. Wir sieben Personen sind die einzigen hier, die dieses Geräusch noch nicht kannten, die ein wenig hilflos lachten, nervös sind, unruhig auf das Verstummen warten und die Luft riecht plötzlich verbrannt. Ich schaue völlig sinnlos in den sternenlosen Himmel. Nichts zu sehen, natürlich, Kiew ist vierzehn Stunden Zugfahrt weit weg.
Steigen sieben Menschen aus sieben unterschiedlichen europäischen Ländern in einen Zug, das könnte der Beginn eines sehr flachen Witzes sein, ist aber eben der Moment, als uns allen klar wurde, dass im selben Moment Menschen, die in unserem Reiseziel leben, genau jetzt mit verschlafenen Blicken den Weg in die Luftschutzbunker antreten. Dass sie darauf vertrauen, dass die Drohnen oder Raketen, was auch immer da kommen mag, eliminiert und nicht mehr werden, als ein Knall und ein helles Leuchten im Norden der Stadt.

Wir steigen trotzdem ein, in den Zug, das möchte ich aber schreiben, nicht ohne zu betonen, dass ich mich umzuschauen versuchte, nach dem nächsten Zug, der wohl zurück fahren würde, nach Warschau und die Stille war nun wie Nebel, der über den Boden des Bahnsteiges floss und die Füße schwer machte.
Woher wir kämen, fragt schließlich eine sehr junge Frau mit einem sehr großen Koffer, die das große Los gezogen hatte, sich das Vierbettabteil mit dem Charme und dem Platz eines sowjetischen U-Bootes mit dreien von uns zu teilen. Sie hätte noch nie, sagt sie, so viele Ausländer in diesem Zug gesehen. Eigentlich überhaupt noch keine, in diesem Zug. Wir zählen unsere Länder auf, Deutschland, Norwegen, Montenegro, sie schaut ungläubig, was wir wohl dann in Kiew wollten? Sie ist sehr freundlich, sie reist sehr oft mit dem Zug, das ist ihr Beruf, auf Messen ihre Firma vertreten, sie brauchte dieses Mal drei Tage bis nach Hause, davon allein mehr als zwei von Warschau nach Kiew und später, kurz vor dem Aussteigen, als sie uns sagt, wir müssten die Bettlaken zum Schaffner bringen, erzählt sie uns noch von ihrem Bruder, der war vor drei Monaten noch 21 Jahre alt. Nun habe sie keine Familie mehr in der Armee, sagt sie und schiebt ihren sehr großen Koffer durch den sehr schmalen Gang und ist weg, ehe wir unsere aus den Boxen unter den Betten hinaus gezogen haben.
Man könnte es wohl wirklich eine, na ja, komische Idee nennen, in ein Land zu reisen, dass sich im Krieg befindet. Denn obwohl es hierzulande immer ruhiger wird um all das, was in der Ukraine passiert, in diesem Land mit den malerischen Flüssen und goldenen Kirchen, weil die Welt mit immer neuen Unfassbarkeiten gefüllt wird und niemand mehr hinterher kommen kann, das Level an Empathie und Aufmerksamkeit für jeden der zerstörerischen Konflikte aufrecht zu erhalten, geht der Krieg dennoch weiter. Sterben dort Menschen, jeden Tag, ob wir das wahrnehmen oder nicht.

Am Bahnhof stehen die Mitarbeiter*innen Alisa Bondarenko und Maksym Sytnikov und vermitteln mit ihrer Fröhlichkeit den Eindruck, als wären wir gerade im schönsten Land der Erde angekommen. Und mein erster Gang durch Kiew lässt mich glauben, auch viele der Menschen hier wollen nichts von alle dem mehr sehen, sie leben einfach, sie spazieren, gehen einkaufen, zur Arbeit, auf dem Maidan wird ein Musikvideo gedreht, ein Schlagzeugspieler beleuchtet sein Instrument in gelb und blau, eine Gruppe Tänzerinnen durchläuft wieder und wieder ihre Choreografie, Menschen schauen zu und klatschen, ein wenig weiter um die Ecke lieg eine junge Frau weinend einem jungen Mann in den Armen, er trägt einen olivgrünen Rucksack. Das ist Kiew, eine Stadt voller Leben und Mut und Fröhlichkeit und Soldaten und Plakaten von Selenskyj im Gespräch mit ihnen und klein gewordenen Menschen. Wir alle haben sie gesehen, die Bilder der zerstörten Häuser der Hauptstadt, der mit Leichen gesäumten Straße in Butcha, die fliehenden Menschen, die überfüllten Bahnhöfe und irgendwie scheint das aus dem Fokus zu rücken, überlagert zu werden, von neuem Leid. Die elf Mitarbeiter*innen und elf Vorstandsmitglieder des ukrainischen PEN haben auch deshalb ihre Hauptaufgabe dahin verlagert, Kolleg*innen aus anderen europäischen PEN Zentren einzuladen und ihnen die Situation ihrer Heimat zu zeigen. Der Krieg ist noch da, er dringt aus jeder Fuge der Stadt.

Viele, die der PEN Ukraine einlädt, sagen ab, keine Zeit, was auch immer „wir haben dafür Verständnis“, sagt Tetyana Teren, die Managerin des Mitarbeiter*innen-Teams. „Künstler*innen sagen immerzu alles mögliche ab. Umso mehr freuen wir uns über die Solidarität derer, die kommen und sehen wollen, warum es im Moment eigentlich nicht mehr möglich ist, schriftstellerisch zu arbeiten. Worum es jetzt für uns geht, ist die Dokumentation des Krieges, der Zerstörung, des Leids, des Kampfes gegen unsere Kultur.“
Im Bus des Verbandes, der mehr oder weniger extra für den Transport ausländischer Delegationen gekauft worden ist, liegen Helme und schusssichere PRESSE Westen. Niemand verlässt das Haus ohne Powerbank.

Zerbombtes Theater in Butcha


Es ist das eine, ob jemand Informationen über das Ausmaß an Zerstörung in einem Fernsehinterview zugeschaltet aus Warschau nennt, oder ob man zwischen den Ruinen in Borodjanka im Kiewer Umland direkt vor der Statue des ukrainischen Poeten Taras Shevchenko steht, dem zwei Mal in den metallenen Kopf geschossen worden ist. Wenn man richtig steht, sieht man, wie ihm das Sonnenlicht durch die Stirn fällt. Es ist auch etwas anderes, in Butcha zu sein, am Kulturhaus, in dem vor dem Krieg noch Theater gespielt worden ist, Ausstellungen waren, Konzerte, alles mögliche, kulturelle stattfand und das schon kurz nach dem 24. Februar 2022 eine 500 Kilo Bombe genau in der Mitte traf. Die Einschusslöcher rings um das gesamte Gebäude unterstreichen den Hass, eine der Statuen am ehemaligen Eingang traf ein Schuss genau ins metaphorische Herz, Banksys kleiner Junge sitzt an einer der Wände auf einem Haufen Einschusslöcher und lässt seinen Drachen steigen. Gegenüber steht ein Wohnhaus ohne Glas in den Fenstern, nebendran ein Fußball-Platz. Die bunten Plastiksitze liegen zerschossen herum, auf dem Rasen schwarze Löcher von Handgranaten.


„Die ukrainische Gesellschaft ist im Moment zweigespalten“, sagt Alim Alieev, Krimtatar und Vorstandsmitglied des PEN Ukraine, bei einem für die angereisten PEN Mitglieder organisierten Interview. „Entweder, man ist selbst in der Armee. Viele unserer Schriftstellerkolleg*innen sind an der Front im Moment, viele freiwillig und viele sind auch schon gestorben. Oder“, sagt er weiter „man unterstützt die Armee mit den Mitteln, die man hat. Es gibt für uns Ukrainer*innen gerade nichts anderes zu tun.“ Und dieses Mittel kann eben auch sein, unbedarfte Intellektuelle nach Butcha zu bringen, ihnen das Grafitti von Banksy zu zeigen und die Steinhaufen, die von den Gebäuden übriggeblieben sind. Sie die Straße entlang zu führen, die wir alle von diesen Fotos kennen. Sie ihre eigenen Fotos schießen zu lassen und darauf zu hoffen, dass sie im Bus zurück in die Stadt vor dem nächsten Programm-Punkt das Gesehene zu verarbeiten im Stande sind. Doch nichts davon ist möglich, denn der Blick aus dem Fenster führt vorbei an Straßenblockaden, gebaut aus Panzersperren und riesigen Betonblöcken, Soldaten mit weithin sichtbaren Gewehren, in den Boden gegrabene Militärbunker, so gut getarnt, mit Schießschartenfenstern, dass man sie erst im allerletzten Moment sieht, wenn überhaupt. Der Krieg ist überall. In diesem Land kann man ihn nicht verarbeiten.
An den Straßenblockaden ist das Nutzen von Telefonen und Kameras verboten, aus Sicherheitsgründen, das stand schon in unserem ausführlichen Security Protokoll, denn wer kann schon Fotos der Punkte im Internet gebrauchen, und trotzdem klopft es bei einer Kontrolle, bei der alle im Bus ihre bunten Pässe aus sieben Ländern in die Höhe halten und der Soldat ein wenig verwundert schaut, von außen an die Scheibe. Telefon! Ruft es und im nächsten Moment steht einer von uns vor dem Bus, weil er seines ausgeschaltet in den Händen gehalten hatte. Der Soldat lässt nun den Finger über sein Handydisplay streichen und durchsucht den Ordner nach Bildern von Militärobjekten. So freundlich, wie es ein Mann im Krieg eben sein kann, gibt er das Telefon zurück und wir dürfen wieder rein, in die Hauptstadt. Und irgendwo zwischen den Punkten verschwindet gerade ein einzelner Soldat mit Mienensuchgerät zwischen den Baumreihen, entlang der gesteckten Markierungen, vorbei an den weithin sichtbaren Schildern, die über den Fundstellen stehen und sie markieren und kurz verfolgt einen die Hoffnung, dass es nicht doch gleich hinter uns knallt, weil er auf diese eine Stelle trat, aber es bleibt ruhig.

Ruinen in Borodyanka


Und auf den Feldern verrotten die Sonnenblumen, im Stehen zwar, aber doch unaufhörlich, vielleicht weil es den Farmer nicht mehr gibt, der sie einst pflanzte oder nur, weil niemand sie mehr haben will.
Und in Butcha laufen zahlreiche Hunde herum und niemand von uns kommt umhin sich zu fragen, ob die wohl mal jemandem hier gehört hatten. Wir alle kennen dieses Foto des Mannes, der tot auf dieser Straße liegt, die Leine seines Hundes noch in der Hand, der sitzt brav nebendran und wartet darauf, dass sie weiter gehen, zum Markt oder der Post, oder sonst, stattdessen ein Leichenwagen, irgendwann.
In Butcha werden wir schließlich nach dem Kulturhaus zur Kirche gefahren, in deren Garten das größte Massengrab der Stadt gefunden worden ist. 116 Personen, die zum Teil erst durch DNA-Tests identifiziert werden konnten, die teilweise jünger als ich waren und nun ohne konkretes Sterbedatum namentlich genannt auf dem Denkmal zu finden sind, das jetzt im Garten der Kirche steht. Innen drin eine Ausstellung der Fotos aus Butcha, der Ausgrabungen der Leichen, man möchte niemanden zwingen, sich das anzuschauen.
Der 63-jährige Ivan Polhui hat auch Leichen gesehen. Irgendwann zwischen dem 03.03. und dem 30.03.2022, als sich sein knapp über 300-Seelen Heimatdorf Yahidne unter russischer Besatzung befand. Da wurde Ivan zusammen mit allen anderen Bewohner*innen des Dorfes in den Keller der örtlichen Schule getrieben und eingeschlossen, in viel zu kleine Räume, ohne Elektrizität, Toiletten, ein halber Quadratmeter Platz pro Person. 50 Kinder waren darunter, an jedem Türrahmen steht noch heute eine Zahl, 35, sie viele waren in diesem Raum, und darüber 8, so viele Kinder dabei. Einige Menschen starben bei dem Versuch, aus dem Keller zu kommen, erschossen. Einige Menschen starben in der Enge des Kellers am Hunger, der Dunkelheit, einer Krankheit, niemand weiß das so genau, „aber alle“, sagt Ivan, „sind vor ihrem Tod verrückt geworden.“

Ivan an der Tür zum Keller der Schule – Darauf steht „Hier sind Kinder“


Wir stehen gemeinsam mit Ivan, der Übersetzerin Anna Vovchenko und einem Fotografen in den verschiedenen Kellerräumen, drücken uns aneinander vorbei, es ist eng, wir sind nur zehn, sie waren mehr als dreihundert. Es riecht vermodert und feucht und in einer Ecke sehr stark nach Urin. „Hier“, sagt Ivan und deutet auf zwei längliche Paletten „haben wir die Toten dann hingelegt. Wir haben immer wieder gebeten, sie nach draußen bringen zu dürfen. Die Russen sagten nur, was willst du, es ist Krieg, also spielten die Kinder hier“, Ivan deutet auf eine andere Stelle sehr nahe an den Paletten und fährt sich mit der anderen Hand durch das Gesicht. „Irgendwann durften wir sie dann rausbringen und im Generatorhaus lagern. Die Namen der Toten“, sagt er in einem anderen Raum „haben wir hier hinter die Tür geschrieben. Hier die Erschossenen, hier die, die hier unten starben.“, neben den Namen hat ein Kind das Schulgelände aus seiner Erinnerung gemalt, einen Regenbogen dazu, es hatte nur einen schwarzen Stift. Vielleicht das selbe Kind malte daneben ein Fußballfeld, mit vielen kleinen Spieler*innen darauf, sie können sich nicht bewegen.
„Das jüngste Kind“, sagt Ivan noch „War erst wenige Monate alt“, auf einem Tisch liegen einige Strampler. Ivan selbst war hier, mit seiner Frau, seinen Kindern und zwei seiner drei Enkelkinder „Man wünscht niemandem, so etwas zu überleben“, übersetzt Anna seine Worte und es ist an uns, zu interpretieren, wie das gemeint ist, denn Ivan ist schon wieder auf der Treppe hinaus.
Im Osten der Ukraine sind bis heute, seit vielen Monaten, ganze Landstriche unter russischer Besatzung. Wie geht es den Menschen dort?
„Du konntest erschossen werden“, sagt Maksym Sytnikov in Butcha, ebenfalls einer der Mitarbeiter bei PEN Ukraine, der uns an all diese Orte fährt und immer begleitet, „weil du eine ukrainische Telefonnummer in deinem Handy hast. Sie sagten dann, du unterstützt die ukrainische Armee. Ihr in euren Ländern, wie viele Nummern von Menschen aus eurem Land habt ihr in eurem Handy? Manchmal erschoss einen auch einfach ein Sniper auf dem Weg zu Bäcker, weil dem grade langweilig war und er entschied, den Menschen da jetzt zu töten. So ist es, in der Besatzung zu leben.“
Maria Tomak, Leiterin der Krim-Plattform der ukrainischen Regierung, ist am selben Abend mit uns zum Essen eingeladen. In ein schönes Restaurant, geführt im Stil der Kultur der Krimtartaren, es gibt wunderbares Essen, der Kontrast zum Tag könnte kaum größer sein, und sie stellt uns ihre Arbeit vor, die die Befreiung und Reintegrierung der kompletten Krim in die Ukraine zum Ziel hat. „Wir haben Narben gesehen“, erzählt sie auf die Frage, wie es ist, auf der besetzten Krim zu leben. „Die Menschen werden gezwungen, einen russischen Pass anzunehmen. Wenn man sich weigert, ist das beste was einem passieren kann, dass sie einem mit dem Messer ein Hakenkreuz in die Schulter ritzen, weil man als Ukrainer nun mal ein Nazi sei. Und das schlimmste ist eben, dass man einfach erschossen wird. Sei russisch oder tot“, sagt sie und ich muss an die erschossene Statue des ukrainischen Poeten denken. Auch Roman Koval, Projektmanager des Projekts Truth Hounds war bei diesem Abendessen dabei und berichtete über die Arbeit der Organisation, die Kriegsverbrechen dokumentiert. Sie fahren nach der Befreiung einzelner Dörfer und Orte dort hin und dokumentieren, was sie sehen, sprechen mit den Menschen vor Ort und versuchen, Gerichtsfeste Beweise für die Kriegsverbrechen Russlands zu sammeln. Ich frage mich an diesem Abend das erste Mal, wie ich selbst wohl reagieren würde, wenn ich in einem Land lebte, dass sich im Krieg wiederfände, ob ich den Mut hätte, für all das, diese wichtige Aufgabe.

Ruinen in Borodyanka

Bei den beiden public Events, die der PEN Ukraine organisiert hat, geht es dann bei meinem Panel auch um die Frage, wie umgehen mit dem, was man sieht, welche Rolle spielt Erinnerung und warum ist es eben wichtig, Fakten zu dokumentieren, wenn sie geschaffen wurden, nicht wenn sie vergangen sind. Faruk Sehic (Bosnien und Herzegowina) und Stefan Todorovic (Montenegro) hatten dabei durch ihren eigenen komplett divergenten Erfahrungshintergrund im Vergleich zu meinem, im Gespräch mit PEN Ukraine Board Mitglied Iryna Slavinska spannende Sichtweisen auf den Krieg und den Umgang von Schriftsteller*innen damit.
Das zweite Panel war zusammengesetzt aus den Skandinavischen Vertreter*innen und Volodymyr Yermolenko, sie erörterten die Frage, ob Skaninavien als Friedens-Treiber fungieren könnte.
Am nächsten Abend saßen wir am Tisch mit Anton Martynov, dem Direktor des Laboratoria Verlags, Olena Odynoka, der stellvertretenden Direktorin des Ukrainian Book Instituts und Oksana Guk, der Pressesprecherin des Vivat Verlages. Ich sah vor allem patriotische Menschen, die ihre Kultur lieben und bewahren wollen. Die erschrocken hochfahren, wenn man fragt, ob in ihren Verlagen auch russische Exil-Autoren verlegt werden würden. „Das ist verboten, niemals.“ Und die ihre Aufgabe darin sehen, ein kulturelles Gedächtnis der Ukraine anzulegen. Vivat beispielsweise verlegt aktuell fast ausschließlich ukrainische Autor*innen, um dem „Diebstahl unserer Kultur durch Russland“ etwas entgegenzusetzen.
Es war ein vollgepacktes Programm, dass sehr deutlich zum Ziel hatte, den russischen Krieg als Krieg gegen die ukrainische Kultur zu kennzeichnen. Gegen alles, was ukrainisch ist und das ist natürlich vor allem Kunst und Kultur.

Jornalis*innen in der Ukraine


Und ich lerne noch den Unterschied zwischen dem „War“ – alles was seit 2014 passierte, und der „full scale invasion/war“ – alles seit dem 24.02.2022. Denn in jedem einzelnen Satz ist eben die Rede vom full scale war, statt einfach „Der Krieg“, es braucht Genauigkeit in den Worten, bei der Dauer und Entwicklung des Konfliktes, der nun mal nicht erst am 24. Februar begann. Die freundlichen Gesichter, die all das sagen, machen mir klar, was wir alles nicht sehen können.
Ich sitze nun nach den 4%R$ Stunden Zugfahrt am Ende der Reise in Warschau am Flughafen und refreshe die Air Raid Alert Karte der Ukraine. Sie aktualisiert sich alle 15 Sekunden und zeigt stets die Gebiete an, in denen gerade Luftalarm herrscht. Wenn man nicht aufpasst, ist das ganz schnell zur Gewohnheit worden, diese Karte zu betrachten, sich zu fragen, ob die Region, in der man gerade ist, auch noch dabei sein wird, heute, später, genau dann, wenn man sicher ist, dass einem der Bunker heute erspart bleibt. „Das kommt immer nachts“, sagte man uns im Hotel. „Das ist psychologisch. Die Menschen sollen irre gemacht werden. Und sicher wird es wieder schlimmer, wenn es kalt wird.“ Und es ist tatsächlich ziemlich irre, mit viel zu vielen Menschen in einem eng bestuhlten Zimmer zu sitzen und darauf zu warten, das irgendetwas passiert. Ein Knall. Ein Donnern. Ein Dröhnen. Ein Rauschen, Irgendwas, doch die eine Stunde gleich in der ersten Nacht, die wir dort verbrachten, war nur die Journalismus-Light Version. Nur die Möglichkeit, das einmal erfahren zu haben, als hätten sie das extra für uns arrangiert. Es ist nichts im Vergleich zu dem endlosen Sitzen in anderen Gebieten, in denen der Knall dann nicht einmal immer das Ende markiert und man weiß genau, Jede und Jeder hier hat das schon endlose Male erlebt und zumindest in Kiew und westlich der Hauptstadt schon längst die Warn-App vom Handy entfernt. Unsere Zeit im Luftschutzkeller endete damit, dass die Handys wieder losgingen und das Ende verkündeten. „May the force be with you“, sagen unsere Telefone und die Hotelanlage und zurück im Bett ist das Geräusch jedes vorbeifahrenden Autos plötzlich ganz sicher eine Drohne.
Und zurück in einem Land, dass kein Kriegsgebiet ist, sitze ich noch immer manchmal da und schaue auf die Karte und denke an Ivan, wie es ihm wohl geht, bei Luftalarm, nach dieser Zeit im Keller der Schule dann immer wieder im Luftschutzkeller. Und denke an die Hunde in Butcha, die ihre Herrchen nie mehr finden, die niemand anderes haben will und an die, die ihre Freunde nur noch auf dem Friedhof im Wald besuchen können und an die Frau, die ihrem Freund weinend in den Armen lag, während um die Ecke das Leben tobte und Musik spielte und ich denke an die Statue der Fürstin Olga vor der St. Michaels Kirche, die eine übergroße schusssichere Weste trägt und an den Friedhof der Autos, der als verbrannter Blechberg gleich hinter der noch immer zerstörten Brücke zwischen Kiew und Irpin aufgestapelt steht und an die Familien, die sich in diesen zerschossenen, ausgebrannten Autos zu retten versucht hatten. Und an den Teddybären, den die Menschen, die heute wieder in Irpin leben, als Mahnung in einem ausgebrannten Kinderwagen an der Kante der Brücke drapiert haben.

Ich weiß nicht, wie es möglich sein kann, in diesem Land im Krieg, in dem Jeder und Jede in irgendeiner Form davon berührt ist, schriftstellerisch zu arbeiten. Es sind Schriftsteller*innen gestorben, zuletzt Victoria Amelina, die von einer Rakete getroffen worden ist, als sie mit einer Delegation wie unserer unterwegs war, im Auftrag des PEN. Der Gedanke daran, jederzeit eine*n Kolleg*in, Freund*in verlieren zu können, selbst zu sterben, ist zum Alltag geworden, und trotzdem sind sie alle genau jetzt, mit Medikamenten, Powerbanks, Wasser und schusssicheren Westen in Charkiw, kurz vor der Front und tun, was sie tun können, damit die, die kämpfen, durchhalten können.

Ein Gedanke zu “Eine Stadt im Krieg – Kiew im Oktober 2023

  1. Das ist ein sehr interessanter Bericht. Mich würde noch die Sichtweise von Faruk Sehic genauer interessieren, der ja selbst den Bosnienkrieg miterlebt hat. Wäre es möglich, diesen Teil noch nachzureichen.

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