Erpelampel

Es ist nicht mehr so kalt in der Stadt und wenn man ehrlich ist, ist es das auch nur sehr kurz gewesen. Die Luft ist grau aber frühlingshaft warm, ein Wind setzt an ein Sturm zu werden, verliert die Lust und flaut ab, bevor sich die Strähnen aus meinem achtlos gebundenen Zopf lösen konnten. Die Leute um micht herum tragen Jacken, viel zu dick, oder keine Jacken mehr, noch zu kühl vielleicht und Mützen, nur halb auf dem Kopf, Stirnbänder, in pastelligen Farben, wie im Herbst, dabei ist Winter, fast Frühling. Herbst auf den Köpfen der Menschen neben mir an der Ampel im Zentrum der kleinen Stadt.

Ich stehe an einer Ampel gleich hinter dem Hauptbahnhof und sie ist viel zu lange rot. Autos ziehen aus allen möglichen Richtungen an mir vorbei. Neben mir an der Ampel stehen Menschen, auf der anderen Seite noch mehr Menschen, Situationen, in denen man glücklich wäre, einfach kurz mit anderen tauschen zu können. Sie dort drüben plötzlich hier, wir auf einmal dort und die Ampel wäre egal, stattdessen schauen alle gernervt in die Luft, auf die Uhr, neben sich. Denn sie bleibt rot, weil an dieser Stelle der Kreuzung aus drei möglichen Richtungen Autos kommen könnten und jeder Versuch einen Fuß auf den Asphalt der Straße zu setzen endet damit, dass ein Hupen ihn zurück treibt. An seinen Platz, bis man endlich dran ist, als letztes in der Kette der Ereignisse. Und drüben auf der kleinen Fußgängerinsel, in der Mitte zwischen der Stadteinwärstspur und der Stadtauswärstspur, die ich erst noch erreichen will, sitzen zwei Enten, ganz nah am Ampelmast. Von hieraus gesehen könnte es sein, dass sie schlafen, sie könnten auch mit eingezogenen Köpfen schnattern oder einfach nur dösen, ich sehe sie nicht gut genug, hören kann ich nur Autos und die Menschen direkt neben mir. Vielleicht haben sie auch Angst und stellen sich tot, weil sie spüren, dass sie hier nicht hergehören, auf diese Fußgängerampelinsel. Doch sie sind Enten, sie könnten fliegen, den kurzen Weg zurück zum Wasser, einfach fliegen, doch sie tun es nicht, also sind sie wohl freiwillig dort. Die meisten Menschen, die auch dort stehen, ignorieren sie. Sehen sie vielleicht nichteinmal. Ich starre sie an, die ganze Zeit und versuche zu erkennen, ob sie sich bewegen. Kurz zucken vielleicht, wenigstens, aber nichts.

Ich wünschte mir jetzt, ich könnte auch einfach irgendwo sein und schlafen. Also schlafenkönnen, ganz egal wo, bei wem, wie laut, wie trübelig, wie unglaublich, einfach innerlich ruhen, wie diese Enten, die vielleicht auch zittern vor Angst, das ist nichts, was ich von hieraus sehen kann, ich nehme einfach an, sie würden schlafen, entspannt, vielleicht, weil es das ist, was ich annehmen möchte. Ich wünschte, mir wäre es ebenso egal wie den Enten, denen ich das in die Köpfe projiziere, wie dicht die Füße der anderen neben mir stehen, wie laut sie in ihre Telefone rufen, wie nah die Reifen des Verkehrs vorbeiziehen, wie sehr die Auflage des Transporters beim Durchfahren des Schlaglochs scheppert.

Ich wünschte, ich müsste nicht hören, wie die Frau neben mir mit der Navigations-App auf ihrem Telefon in der Hand sich entschuldigt, weil ihr Ablesefehler dazu führte, dass sie und ihr Mann nun im Kreis über die Kreuzung über jede der Ampeln hier gegangen sein werden, wenn sie ihr Ziel erreichen, weil sie Norden und Süden vertauschte und sie eigentlich nur über die Brücke geradeaus hätten gehen müssen. Ich wünschte, ich müsste nicht hören, wie ihr Mann, ohne Telefon in der Hand, sie anfährt, eine Aufgabe habe sie gehabt, nur eine, und nichteinmal das habe sie gekonnt, dumm sei sie, nichts könne sie, nie, schon immer sei das so, mit ihr fahre er nichtmehr in den Urlaub, sie schweigt. Ich auch. Und die Enten rühren sich nicht.

Vielleicht ist es dieses Gefühl, nur nichts Dummes sagen zu wollen, in einer Situation, einer Welt, die schon so sehr an Ignoranz erstickt, das dazu führt, dass einen Moment lang auf unserer Seite der Ampelkreuzung niemand etwas sagt, obwohl alle alles hörten und vielleicht will einfach niemand der metaphorische Brandsatz sein, der in die Situation von anderen fliegt, deren Leben man nicht kennt und nicht zu kommentieren im Recht ist, oder vielleicht bin ich auch die Einzige hier, die Anstoß nimmt? Und der Ehemann schnauft kurz, steckt sich eine Zigarette an, die sie aus ihrer Handtasche für ihn geholt hat, mit dem Feuerzeug, das sie aus ihrer Jackentasche für ihn geholt hat und wir alle atmen ihn jetzt ein, seinen Nikotinrauch. Hinter uns stoppt ein Kind mit Rucksack auf dem Rücken sein Fahrrad und steigt ab, reiht sich ein in die Gruppe der Wartenden und hustet kurz, schaut sich um, schiebt das Rad ein Stück weiter weg und schaut auf die Enten, fast sofort.

Das Kind schaut sich um, sein Blick sucht den Blick eines Anderen, der oder die auch die Enten sieht, ich schaue zürück, das Kind lächelt und fragt: Sind die tot, da die Enten? Ich schüttle den Kopf, obwohl ich es gar nicht wissen kann. Warum fliegen die nicht weg, da die Enten, fragt das Kind, das muss doch ätzend sein da, sagt das Kind, die wohnen doch am Wasser sonst, sagt das Kind und ich nicke.

Das Wasser, sage ich jetzt und mache eine Pause, um zu registrieren, wer noch alles hinhört, ist doch gleich dort hinten, da unter der Brücke, gleich da drüben ist eine Treppe, da könnte man auch als Mensch einfach hinunter zum Wasser gehen, vielleicht reicht es den Enten zu wissen, dass sie zum Wasser könnten, wenn, und ich verstumme. Wenn? fragt das Kind und grinst, wenn ich die gleich verjage, sagt das Kind und es wird grün direkt und das Kind steigt aufs Rad und fährt los, durch die Leute, die uns jetzt entgegegen kommen. Zwei schauen auf ihre Telefone und sehen es nicht, ein Mann schimpft, obwohl es ihn gar nicht streift, das Kind und es fährt ganz dicht an den Enten vorbei und sie heben die Köpfe, schlagen mit den Flügeln und lassen sich nieder, auf der anderen Seite des Ampelmasts.

Als ich sie erreicht habe, die Enten, bleibe ich stehen, einen Moment und schaue sie an. Ein Stockentenerpel, mit leuchtend grünem Kopf und einem ebenso leuchtend gelben Schnabel liegt ganz dicht neben dem Weibchen, das keinen eigenen Namen hat und einfach Ente heißt, mit dem graubraunen Tarngefieder und dem gräulichen Schnabel, das direkt am Ampelmast liegt. Sie scheint eingeklemmt zu sein, zwischen dem Mast und dem Erpel, der Straße vor sich, den Straßenbahnschienen hinter sich, sie scheint bewegungslos zu sein, der Erpel dagegen schnattert jetzt vor sich hin, ich bin die Einzige, die kurz stehen blieb und sah, wie die Ente ihn schnattern ließ und den Kopf zurück ins graubraune Gefieder schob und er schnattert und wirft seinen leuchtend grünen Kopf hin und her und der gelbe Schnabel zerschneidet die Luft und ganz leise zerteilt das Schnattern die Ampelgeräusche und ich bücke mich. Der Erpel verstummt. Ich strecke meine Hände nach der graubraunen Ente aus. Der Erpel schnappt nach mir, meinen Fingern, doch plötzlich sind beide hellwach und breiten die Flügel und die Füße der Ente verlassen den Beton des Bodens zuerst und der Erpel schnattert noch immer und beide fliegen nun über die rote Ampel hinweg in Richtung der Brücke, gleich hinter dem Paar hinterher, zum Wasser und die Ampel vor mir, die mich von der Mittelinsel herunter lassen würde, zu meinem Ziel ist schon wieder rot und nun stehe ich hier, allein, ohne Enten, ohne andere Menschen, die sich an den Ampeln auf den jeweils vor oder hinter mir liegenden Straßenseiten sammeln und in die Luft starren, auf ihr Telefon, oder den Boden.

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