Romanauszug „Gefährlicher Frühling“

So geht er los, der Kriminalroman „Gefährlicher Frühling.“

Die hier für Sie veröffentlichte Einstiegsszene ist ein Tatsachenbericht. Es hat so stattgefunden und den Anstoß zur Revolution im arabischen Raum gegeben, dem so genannten „Arabischen Frühling.“ Lediglich der Name des jungen Tunesiers wurde verändert und einzelne Details auf dem Weg zum „auslösenden Ereignis“ aus Gründen der literarischen Ästetik weggelassen.

big_32891230_0_172-284„Auf dem Weg zum Grab seines Vaters fasste Essad Alschad einen Entschluss. Die Augen zum Himmel gerichtet, umfasste er seine zitternde Mutter ein wenig fester, lauschte auf die Schritte seiner vier Schwestern hinter sich und stimmte sich im Geiste selbst zu. Ja.

Was gab es auch für einen anderen Weg?

Als der Sarg mit seinem Vater in die Erde hinabgelassen wurde, suchte er im Kopf alles zusammen, vergegenwärtigte sich jede Kleinigkeit, dachte an alles, stimmte sich zu. Immer wieder, als würde er sich kurz darauf selbst widersprechen, leistete er Überzeugungsarbeit an sich selbst.

Auf dem Weg nach Hause ging er gebückt, er spürte eine ungeheuer schwere Last auf den Schultern, war gealtert, schlurfte nur langsam voran, dabei war er gerade dreißig geworden. Zu Hause brauchte er nicht mehr lange zu überlegen. Sein Diplom in Geschichtswissenschaften, die Briefe des Vereins arbeitsloser Akademiker mit dem Stempel seiner kleinen Heimatstadt darauf, alles legte er ins Waschbecken.

Nur einen Moment hielt er inne, ein Zögern?

Er entflammte das Streichholz, der Rauch kratzte an der Innenseite seiner Nase. Das kleine Holz landete auf dem Papier, es fing sofort Feuer. Die Druckerschwärze änderte den Geruch, die Flamme fraß sich durch seine Vergangenheit. Fraß den Text. Fraß das Summa cum laude. Fraß seinen Namen. Alles. Er spülte die Asche durch den Abfluss, spülte seine Vergangenheit von sich, änderte seine Zukunft und verabschiedete sich von seinem Idealismus. Es galt, seine zuckerkranke Mutter, seine vier Schwestern und die zwei Brüder zu ernähren. Es galt, zu überleben. Er war jetzt der Älteste. Er drehte das Wasser ab und ging in den Schuppen.

Der Karren seines Vaters war alt, aber noch funktionsfähig. Er zog die Muttern an den Rädern fest und schob ihn in die Sonne. Seine Familie richtete sich unterdessen ein, in ihrem neuen vaterlosen Leben. Er richtete sich ein, in seinem neuen Leben als Straßenhändler. Sein erster Weg führte ihn zu Aschna, dem einzigen Händler, der auf Kommission verkaufte. Er hatte keine Wahl, er hatte kein Geld. Aschna redete ihm ein, sein Vater schulde ihm noch Geld, Essad hatte keine Möglichkeit, das zu widerlegen. Trotzdem verkaufte er ihm genügend Früchte für seinen Karren. Er zog durch die Straßen, es war noch zeitig, dennoch schienen alle guten Plätze besetzt. Alle anderen Händler waren nicht am frühen Morgen auf einer Beerdigung gewesen, alle anderen Händler hatten eine Lizenz, einen Stammplatz, Erfahrung. Wo war der Stammplatz seines Vaters gewesen? Niemand wollte es ihm sagen. Wahrscheinlich hatten sie ihn schon lange unter sich vergeben. Essad zog seinen Karren, stand an Ampelkreuzungen, und verkaufte einen Teil seiner Früchte. Es kann funktionieren, dachte er, als er zwei Polizisten auf sich zukommen sah.

»Papiere?«, fragte der männliche, dessen Mütze ihm ein gutes Stück zu groß war.  Essad reichte seinen Pass, er verschwand fast in den Händen des Polizisten.

»Warum sitzt du nicht mehr bei deinen Kollegen?«
Er deutete in Richtung des Parlamentsgebäudes.
»Ich habe aufgegeben, man hört uns ja doch nicht an, jetzt verdiene ich meinen Unterhalt als Straßenverkäufer.«

»Warum?«

»Mein Vater ist gestorben. Er war Straßenhändler, ich habe keine Wahl.«

»Und du übernimmst einfach, als wäre nichts passiert?«
»Ist es etwa verboten, ehrlich seinen Lebensunterhalt verdienen zu wollen?«
»Wird auch noch unverschämt.« Er warf seiner Kollegin einen belustigten Blick zu.

»Hast du eigentlich eine Versicherung?«, fragte die jetzt.
»Eine Versicherung für einen Obstkarren? Davon habe ich noch nie gehört.«
»Stell dir mal vor, du überfährst ein Kind. Wer soll dann zahlen? Du etwa? Du gibst hier den Idioten, ich sag das nur zu deinem Besten.«
Der männliche zog jetzt ein Notizheft hervor und schrieb. Dabei sah er Essad aus dem Augenwinkel immer wieder an.
»Denk an die Versicherung!«, sagte er noch. Dann griff er mit beiden Händen in den Obstkarren, biss in einen Apfel und sagte mit vollem Mund: »Los, geh schon weiter.«

Kurze Zeit später, als Essad mit seinem Karren von Platz zu Platz zog, immer wieder vertrieben und beschimpft wurde, suchten Polizisten in Zivil seine Mutter auf. Sie fragten sie, warum Essad nicht mehr bei der Gruppe der arbeitslosen Akademiker mitmache. Die Mutter antwortete zitternd, stellte es dar, wie es war, sprach von den Ascheresten im Waschbecken und verstummte. Der Polizist händigte ihr eine Vorladung aus. Noch am gleichen Abend sollte Essad vorstellig werden. Die Mutter brach in Tränen aus. »Mein Sohn macht keine Politik«, schluchzte sie, doch die Polizisten reagierten nicht darauf, ließen sie weinend zurück.

Als Essad schließlich mit leerem Karren am späten Nachmittag nach Hause kam, gab sie ihm den Brief, er las ihn nur kurz und verließ das Haus gleich wieder, ohne ein Wort. Was sollte er auch sagen? Im Kommissariat saß er auf einer Bank, neben ihm ein armer, sehr elend aussehender Mann, er döste vor sich hin und schwieg. Essad fragte sich, was man einem Mann wohl vorwerfen konnte, der besser im Krankenhaus aufgehoben gewesen wäre. Immer wieder hustete und spuckte der Alte. Essad stand auf, denn er hatte Angst, sich mit Tuberkulose anzustecken. Er ging den Gang auf und ab und versuchte, jemanden aufzutreiben, der ihm sagen konnte, was ihm vorgeworfen wurde, als gegen Mitternacht plötzlich ein Beamter vor ihm auftauchte.

Ausweiskontrolle.

Ein klassisches Verhör.
Man fragte ihn das Gleiche wie schon am Vormittag: Warum traf er sich nicht mehr mit seinen ehemaligen Kampfgenossen? Neu war die Frage, ob die Islamisten ihn abgeworben hätten.

»Nein. Der Tod meines Vaters hat mein Leben aus der Bahn geworfen. Ich muss meine Familie ernähren. Das kann ich nur mit seinem Karren als Obstverkäufer.«

»Und wie läuft es?«
»Ich habe gerade erst angefangen.«
»Junge, du solltest nicht auf ein Wunder warten. Es gibt da draußen sehr viele Händler, die einen schaffen es und verdienen einen Haufen Geld. Die anderen sind naive Versager. Du musst dich entscheiden, auf welcher Seite du stehen willst.«

Zuerst verstand Essad nicht, was der Polizist von ihm wollte. Vielleicht wollte er es auch nicht verstehen, weigerte sich, doch dann drang es zu ihm durch: Er sollte Polizeispitzel werden. Im Gegenzug bekam er einen rentablen Stellplatz. Wenn er das Angebot ausschlug, könnte er dagegen gleich aufgeben.

»Denk drüber nach.« Ein ekliges Grinsen breitete sich auf dem Gesicht des Beamten aus. »Morgen treffen wir uns am Road Point de l’Indépendance. Geh jetzt nach Hause.«

Essad wusste, würde er dort auftauchen, akzeptierte er automatisch den Handel.

Am frühen Morgen nahm er seinen Verkaufsstand und zog in ein einfaches, belebtes Viertel, weit weg vom Road Point de l’Indépendance.

Die folgenden Tage glichen einer Tortur. Er zog mit seinem Stand umher, verkaufte nur schleppend und musste sich immer wieder Polizisten aussetzen. Sie schikanierten ihn, bedienten sich an seiner Ware, er konnte kaum neue kaufen. Der Weg in die Stadt wurde immer länger, immer früher musste er aufstehen, um einen möglichst guten Platz zu bekommen, von dem er schon ein paar Stunden später vertrieben wurde. Er kämpfte sich durch, dachte immer wieder an die Diabetes seiner Mutter, seine Geschwister, durchhalten, Essad.

So schlug er sich durch bis zum 17. Dezember 2010.

Es war brutal. Zwei uniformierte Beamte, davon eine Frau, warfen ihn zu Boden, er hatte nicht einmal mehr Zeit, wieder aufzustehen. Sie nahmen seinen Karren. Stießen ihn um, das Obst rollte von ihm weg.

»Beschlagnahmt.«

»Genau, du hast kein Recht, illegal zu verkaufen, du hast keine Erlaubnis, keinen Gewerbeschein, zahlst keine Steuern, bestiehlst den Staat, jetzt ist es aus. Dein Karren ist beschlagnahmt.«

Die Beamtin setzte hinzu: »Und jetzt hau ab! Los, mach die Biege!«

Noch immer lag er am Boden, völlig fassungslos, der Beamte malträtierte ihn mit Fußtritten. Ein paar Schaulustige blieben stehen. Ein Kleintransporter der Polizei kam an, weitere Beamte stiegen aus und fingen an, die Ware aufzusammeln, einer aß einen Apfel. Essad musste gehen, aber er wollte nicht. Er setzte zu einem Widerwort an und bekam eine Ohrfeige. Die Beamtin spuckte ihm ins Gesicht, in ihm starb etwas. Seine Menschlichkeit. Völlig entwürdigt, enteignet, entmenschlicht. So ging er. Er hatte keine Wahl, in ihm brannte ein Feuer. Er konnte an nichts mehr denken. Zu Hause schob er das Motorrad aus dem Schuppen und setzte sich darauf. Die Straßen zogen an ihm vorbei, völlig konturlos, er nahm nichts mehr wahr. Nichts, nichts, nichts. Ein großes entmenschlichtes Nichts.

An der Tankstelle ließ er sich zwei Plastikflaschen mit Benzin füllen, von dort aus fuhr er weiter zum Rathaus. Sein Motorrad schloss er an, gestohlen wurde es auch so. Er sah in den Himmel. Die Sonne brannte auf seiner Haut. Noch immer spürte er die Stelle glühen, an der ihn die Spucke der Beamtin getroffen hatte. Ein letztes Mal ging er zum Eingang des Rathauses, bat den Pförtner um Einlass, ein Gespräch mit dem Bürgermeister, man müsse ihm doch zuhören. Nein. Beleidigungen. Ablehnungen.

War er so wenig wert? So gar nichts?

Seine Gedanken überschlugen sich, seine Würde spülte er von seiner Kleidung, als er sich mit dem Benzin übergoss. Er sah jetzt ganz klar. Konnte jeden Gedanken ganz deutlich spüren, es schüttelte ihn, er wusste, er hatte keine Wahl, wie sollte er noch leben können? Wie? Alles, wozu sein Leben noch taugte, war ein Zeichen zu setzen. Ein lautes Zeichen, eines, das bis nach Europa schallen sollte, eines, das eine unglaubliche, unvorhersehbare Revolution auslösen würde. Er wollte den Anstoß geben, er würde der Funke sein, der das Land und die ganze arabische Welt zum Brennen brachte.

Als er das Streichholz zündete, dachte er an seine Mutter. An seinen Vater. An seine verlorene Menschlichkeit. Er dachte an seine Träume und hielt das Streichholz an sein Hemd. Es fing sofort Feuer. Der Pförtner schrie grell auf, Leute liefen herbei, versuchten, Essad mit Jacken zu löschen.

Einen Moment rannte Essad als lebende Fackel auf dem Platz vor dem Rathaus herum, er schrie nicht, sackte einfach zu Boden. Er sah nicht mehr aus wie ein Mensch. Ganz schwarz, über und über schwarz. Die Menschen, der Pförtner, weinten. “

Auszug aus „Gefährlicher Frühling“, Pendragon 2014.

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