Wir haben das Unheil gerettet

Mein Gang auf die Straße dieser Tage ist begleitet von einem beklemmenden Gefühl. Es sitzt bei mir ganz tief in der Kehle, ein Stück unter dem Kehlkopf, im Hals, genau da, wo es niemals herauskommen kann. Dieses Gefühl, es drückt in mir auf jeden Muskel, es lässt mich fragen, ob du auch, oder der? Sie? Die drei dort? Habt ihr AfD gewählt? Wie oft laufe ich jeden Tag vorbei an Menschen, die andere Menschen zu hassen scheinen, weil sie leben wollen? Weil sie anders sind? Und ist es so einfach?

Die letzten Jahre waren angefüllt mit Artikeln und Büchern, Blog-Beiträgen und Talkshow-Runden, die zu ergründen versuchten, warum die Menschen sie wählen, die Nazis von der AfD. Was treibt einen in einer Demokratie aufgewachsenen Menschen dazu, eine Partei zu wählen, die im richtigen Licht betrachtet auch für sie selbst der Abstieg wäre, was läuft da schief, fragen wir uns schon jahrelang. Ist es der Neoliberalismus, der keine Gefangenen macht und nur Gescheiterte hinterlässt, die da oben keinen Gegner ausmachen können und darum nach unten treten? Sind es die Hass-Kampagnen die Angst schüren sollen, diese Worte, die aus Menschen Ungeziefer, Naturkatastrophen und Gewalthorden machen, ist es Social Media, das dazu führt, dass ich nur noch schwarzhaarige Männer mit Messern zusehen bekomme, sind es Worte voll Hass in unseren Parlamenten, ist es die Schwäche der Linken, Moment, welcher Linken, sind es die Kübel voll Gülle, die wir verbal übereinander auskippen beinahe jeden Tag, ist es das Übernehmen der Themen von Rechts, die sie erst salonfähig machen, ist es eine was auch immer bedeutende Nostalgie, ein Wunsch nach Führung, ein Gefühl von Perspektivlosigkeit, ein Vergessenhaben der Lebensgeschichten der Menschen im Osten, ein Niedermachen und Auslachen der Leute mit ungewöhnlichen Ideen, ist es die Lust an der Fundamentalopposition, das denen da oben eins auswischen Wollen, oder schlicht Kurzsichtigkeit? Was von alledem könnte es sein?

Ich habe keine Antwort darauf. Vielleicht ist es alles davon, denn vielleicht sind Menschen nicht alle gleich und wir alle haben andere Gründe, warum wir denken, wie wir denken und fühlen wie wir fühlen und wählen, wen wir wählen? Und vielleicht ist es trotzdem gut, weiter diese Bücher zu schreiben und die Artikel zu lesen und die Recherchen durchzuführen, ganz sicher ist es das, und vielleicht brauchen wir Lösungen für alles und eine Brandmauer, ein Bollwerk von Links, ein Setzen von anderen Themen, ein Narrativ des schönen gemeinsamen Lebens, ganz sicher tun wir das. Wir sollten uns zusammenrotten, auf die Straßen gehen, Dinge zerdenken, Fragen stellen, Wünsche formulieren, Utopien äußern, das müssen wir tun, nur wann und wer ist dieser Rest wir?

In den Medien, scheint es, sind alle längst weiter gezogen, haben sich gerettet, in die Fußball EM. Schwarz rot gold wirkt irgendwie deplatziert, irgendwie angstbesetzt, irgendwie im Bild verrutscht und doch muss es weiter gehen, schließlich ist ja eigentlich doch irgendwie genau gesehen gar nichts passiert, nicht war. Es muss weiter gehen. Das hat es schon immer gemusst. Es ist wie dieses Gefühl, das man hat, wenn ein geliebeter Mensch gestorben ist, es ist ein Schock, ein Trauerfall, ein Grund innezuhalten und doch, dass fällt uns allen in diesen Momenten auf, dreht die Erde sich weiter, wachsen die Pflanzen noch, drehen sich die Windräder noch, alles geht weiter und das tut es auch jetzt. Und ich, ich laufe durch die Straßen und frage mich, wohin trägt der da die Fahne wohl, zum Stammtisch oder auf die Fanmeile? Wann haben wir entschieden, dass eine AfD als stärkste Kraft in drei Ostdeutschen Bundesländern nicht so wichtig ist, wie eine Fußball EM?

Ich fühle diese Fragen und dieses Gefühl in all meinen Gliedmaßen und irgendwie ist genau dieses Weiterziehen für mich eine Kampagne zum Schüren von Angst. Die Welt zerbröselt und alle geben sich vor allem nur Mühe, es gar nicht zu sehen, nicht so schlimm zu finden, schon alles unter Kontrolle zu haben, das macht mir Angst, nicht nur, beim Blick in die Geschichte. Die Rechten, sie vernetzen sich, die Linken zerstreiten sich, die Rechten kultivieren die freundlichen Gesichter, die Linken tragen Grabesmienen zur Schau, alle Sonnenblumen der Grünen längst verblüht und doch, wir ziehen weiter und sehen es nicht. Weiter immer weiter, Aufbruch in den Sommer, endlich abschalten können, mal fröhlich sein dürfen und wir stellen uns nur noch die Frage, ob die Hitzewelle in Spanien uns wohl den Urlaub verhageln wird, und das macht mir Angst. Wann haben wir beschlossen, nicht hinsehen zu müssen, es passieren zu lassen, dass Menschen sterben, im Mittelmeer, an Grenzzäunen gleich hinter deinem Urlaubsparadies, in Kriegen, aus denen sie nicht entfliehen dürfen, in Gefängnissen und Arbeitslagern, in nächtlichen Gassen und brennenden deutschen Wohnhäusern. Wann ist das gewesen, ich hab das scheinbar verpasst, diese Gefühllosigkeit anderen Menschenleben gegenüber zu lernen, nicht das ich das wollte, dass irgendjemand das wollen sollte, doch passiert scheint es zu sein.

Ich fühle mich zurückgelassen, wie damals, auf dem Schulhof, als wir entscheiden mussten, welches Spiel gespielt werden soll und ich noch nachdachte, während einer schon rief, lass es Fangen sein und alle losrannten und ich war die Letzte, die noch da stand und dachte. Und die erste, die gleich wieder raus war, aus dem Spiel. Es ist dieses Gefühl, noch dazustehen, noch nachzudenken, noch grübeln zu müssen, während die Menschen schon weiter ziehen, vergessen haben, dass es eine Frage mal gab, es macht mir Angst, denn ich weiß natürlich trotzdem genau, egal wie lange ich stehe und denke, ich werde die Lösung nicht finden und außerdem wartet sowieso niemand darauf.

Wir schaffen das, sagte Merkel, wir müssen wieder konsequent abschieben, Olaf Scholz. Was ist gekippt, frage ich mich und der da sagt, er hätte ja nichts gegen Ausländer, aber. Und außerdem, wo kommt ihr eigentlich WirKLicH her? Und dann ziehen sie weiter. Ohne uns.

Menschen, die schon einmal den Hass von Rechts erlebt haben, müssen sich im Moment wahnsinnig verzweifelt fühlen, angesichts der Gleichgültigkeit, die aus unseren Fernsehern flimmert, seit alles wieder schwarz rot gold geworden ist.
Ich fühle mich verzweifelt. Und allein.
Und in jedem Muskel erstickt, ob der Redunananananananzen in den Worten der Menschen, die auf die Gefahren hinweisen, die rechte Demagogen personifizieren. Dieses Gefühl, dass alles gesagt ist, schon tausendfach und verdammt klug und ruhig und emphatisch auch, dass alles längst analysiert ist, ausbuchstabiert bis ins Kleinste und einfach trotzdem immer noch alle weiterziehen, es ist lähmend, frustrierend, erschreckend und schmerzhaft.

Wir haben das Unheil gerettet, die Debatten überlagert, die Stimmen von Menschen, die wissen, worüber sie reden, weil sie schon seit immer im Zentrum des Hasses ausharren, übertönt, wie schon so oft. Und ich denke darüber nach, wie sie alle dann nach uns, sich fragen werden, warum nur warum haben sie denn nichts gemacht. Sie sind weitergezogen, wir sind zurückgelassen und wenn wir sie eingeholt haben, dann hoffentlich nicht, weil sie erstarrt sind, an ihren eigenen Mauern zerschellt.

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